Das Kammergericht Berlin hat den Träger einer Rettungsleitstelle zu Schadensersatz in Höhe von ca. 350.000,-€ verurteilt. Die Alarmierung nur eines Rettungswagens (RTW) zu Atembeschwerden eines Asthmapatieten sei ein „grober Behandlungsfehler“ gewesen. Damit werden die Grundsätze des groben Behandlungsfehlers erstmals auch auf die Notruf-Bearbeitung in der Rettungs-Leitstelle angewendet. Der Bundesgerichtshof hat die Entscheidung bestätigt.
„Atembeschwerden“ vs. „Atemnot“: Notarztindikation
Im konkreten Fall war der Leitstelle beim Notruf von einem Dritten „Atembeschwerden bei einem Asthmapatienten“ geschildert worden. Die Leitstelle alarmierte daraufhin einen Rettungswagen (RTW), jedoch keinen Notarzt. Die Leitstelle nutzte dabei ein standardisiertes Abfrageverfahren. Der Notarzt wurde erst von der RTW-Besatzung nachalarmiert, es entstand eine zeitliche Verzögerung von ca. 10 Minuten.
Nachdem der Patient später verstorben war, machte die Krankenversicherung des Patienten gegen den Träger des Rettungsdienstes Schadensersatz geltend. Die Krankenversicherung behauptete, durch die um ca. 10 Minuten verzögerte ärztliche Behandlung seien diverse Gesundheitsschäden bis hin zur Schwerstpflegebedürftigkeit eingetreten.
Das Kammergericht Berlin gab der Versicherung Recht und verurteilte den Träger des Rettungsdienstes zu Schadensersatz von ca. 350.000,-€.
Selbst wenn der Leitstelle nur Atembeschwerden geschildert worden wären, hätte diese bei einem bekanntem Asthma-Patienten einen Notarzt alarmieren müssen. Die Nicht-Alarmierung eines Notarztes und Entsendung lediglich eines RTW sei dann ein grober Behandlungsfehler. Wörtlich schreibt das Kammergericht von „mit der Behandlung per se überforderten Rettungssanitätern“.
Grober Behandlungsfehler und Beweislastumkehr
Dieser grobe Behandlungsfehler können auch von nicht-ärztlichem Leitstellen-Personal begangen werden. Das Kammergericht vergleicht das Leitstellen-Personal insofern mit einer in der Notaufnahme tätigen Krankenschwester, die eine „Vordiagnose“ vornimmt.
Rechtliche Folge des groben Behandlungsfehlers ist dann eine Beweislastumkehr zugunsten des Patienten bzw. hier zugunsten der Krankenversicherung. Der beklagte Träger des Rettungsdienstes hätte nun nachweisen müssen, dass durch die verzögerte ärztliche Behandlung (hier um ca. 10 Minuten) dem Patienten kein Schaden entstanden ist. Dieser Gegenbeweis ist schwierig bis unmöglich zu führen.
Die Entscheidung des Kammergerichts ist rechtskräftig. Der Bundesgerichtshof hat die Beschwerde hiergegen zurückgewiesen.
Damit wird das Instrument des groben Behandlungsfehlers mit beweisrechtlich erheblichen Folgen nicht nur auf den Einsatz von Rettungsfachpersonal (Kammergericht, Urteil vom 19. Mai 2016, 20 u 122/15) und beim Hausnotruf (Bundesgerichtshof, Urteil vom 11. Mai 2017, III ZR 92/16) angewandt, sondern auch auf die Leitstellen-Tätigkeit weiter ausgedehnt. Eine kompakte rechtliche Einschätzung folgt hier in Kürze.
Kammergericht Berlin, Beschluss vom 20. März 2017, 20 U 147/16
Kammergericht Berlin, Beschluss vom 19. Juni 2017, 20 U 147/16
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 13. März 2018, VI ZR 324/17 (nicht veröffentlicht)
Das Urteil ist nicht nachvollziehbar. Unkritisch gesehen müsste man nun schussfolgern – um als Disponent „sicher zu gehen“ – so oft wie nur möglich den Notarzt zu alarmieren. Die Folgen wären der Kollaps des ohnehin angespannten Systems und erhebliche Mehrkosten. Das ist sicher nicht der Weg. Auf die Spitze getrieben muss dann auch folgende (polemische) Frage gestellt werden: ist ein Disponent haftbar zu machen, wenn er den Notarzt zu einem nicht indizierten Einsatz schickt und somit die notärztliche Hilfe bei einem lebensbedrohlichen Paralleleinsatz verzögert wird?
Im konkreten Fall stellt sich für mich die Frage, warum sitzen auf dem RTW in Berlin Rettungssanitäter und keine Rettungsassistenten oder Notfallsanitäter? Wurden durch die Rettungsdienstmitarbeiter überbrückende Maßnahmen eingeleitet oder nicht? Gibt es für derartige Situationen SOP`s für die Rettungsdienstmitarbeiter? Wo ist der medizinische Beweis, dass die notärztlichen Maßnahmen – wenn 10 Min früher begonnen – lebensrettend gewesen wären?
In Sachsen gibt es keine Hilfsfrist für Notärzte. Da der Notarztdienst auf Freiwilligkeit der Ärzteberuht, kann für den Bürger auch kein Recht auf einen Notarzt abgeleitet werden.
Als Rettungsassistent und seit Jahren Verantwortlicher auf dem RTW bei der Berliner Feuerwehr frage ich mich nach dem Sinn der Klage der Krankenkasse.
Im Hinblick auf die möglichen Konsequenzen eines solchen Urteils auf künftige Einsätze, die ja letzlich wieder von den Kassen bezahlt werden müssen. Da schneidet sich die Krankenversicherung ins eigene Fleisch.
Auch für uns als Rettungskräfte wird die Anzahl der Fehlalarme dadurch nicht geringer..
70-80% der Einsätze sind aktuell keine Notfälle, bei denen mit unmittelbarer Lebensbedrohung gerechnet werden kann.
Das s.g. SNAP (standardisierte Notfallabfrage Protokoll) ist u.a. Ein Grund für die Höhe der Fehlalarmierungen.
Wieviel Mehrkosten und Gefährdung dadurch provoziert wird und dass mit den ohnehin knappen Rettungsmittel gehaushaltet werden muss, lässt Ihr Artikel gänzlich aus.
Man sollte bei allem natürlich selbstkritisch bleiben und Fehler eingestehen, aber die Statistik zu den Fehlalarmierungen und dessen Auswirkungen wäre genauso interessant.